Naviera Austral: Castro – Chaiten
21 02 2014So. 16.02.2014
Bereits vor dem Frühstück gehen wir zum Hafen um Tickets für die Fähre der Gesellschaft Naviera Austral zu kaufen. Draußen ist es noch relativ kühl, aber die Sonne ist schon wieder zu sehen. Am Fährterminal angekommen darf nur einer zum Ticketkauf in das Gebäude. Der Verkäufer sagt mir, dass es keine Sitzplätze mehr gibt, wir aber Karten für das Oberdeck kaufen können. Für uns o.k., da es nicht nach Regen aussieht, also kaufe ich drei Tickets und wir gehen den steilen Hang hinauf zurück ins Hostel zum frühstücken und um die Rucksäcke zu packen. Als wir um 10.30 Uhr zurückkommen hat sich vor dem Terminal schon eine größere Menge an Rucksacktouristen angesammelt, größtenteils Chilenen.
Wir sind nicht sicher ob 11.00 Uhr die Abfahrts-, oder die Boardingzeit ist. Zunächst wird noch ein Tanklaster verladen. Dann öffnet sich die Ladeluke für die Passagiere. Wir gehen das Pier hinunter, vorbei an einem Pavillon der holländischen Rederei, deren Kreuzfahrtsschiff gerade im Hafen liegt. Dort warten Stühle und Desinfektionsstationen auf die Kreuzfahrer, die sich nach dem Kontakt mit den “wilden Chiloten“ von ansteckenden Krankheiten befreien und ausruhen können. Ein seltsames Bild. Im Bauch der Fähre befindet sich eine Gepäckstation, wo wir die Rucksäcke abgeben können. Wir warten einen Moment, damit unsere Rucksäcke oben liegen und wir beim aussteigen bei den ersten sind die das Boot verlassen. Wir gehen hoch auf das Oberdeck und setzen uns in die Sonne. Das Boot füllt sich langsam und unten fahren weitere LKWs in die Fähre ein. Nachdem ich ca. 45 Min. in der Sonne geschlafen habe und wir immer noch im Hafen liegen, berichtet Kai, dass einer der LKWs Probleme beim Einparken hatte und die Fähre versetzt werden musste, damit er einfahren kann. Nun können auch endlich die PKWs einfahren. Nach einer weiteren Stunde und drängt sich die Frage auf ob wir heute überhaupt noch Ablegen…als wenig später einige an der Brüstung stehende Passagiere applaudieren gehe ich nach vorne und Kai berichtet, dass durch die eintretende Flut das Tau mit dem die Fähre an einem der Poller befestigt war nun unter Wasser ist und nicht mehr gelöst werden kann. Kurzerhand wurde nun ein Beiboot zu Wasser gelassen und das Tau einfach durchtrennt. Nun kann es endlich losgehen, es ist 14.45 Uhr. Der Kapitän hupt und das Kreuzfahrtschiff, dass weiter draußen vor Anker liegt (wahrscheinlich aus Infektionsgründen…) hupt zurück. Wir fahren aus der Bucht raus und Wind kommt auf. Auf Deck spielen 4 Blonde Jungs, die wohl Geschwister sind und da die Eltern beide dunkelhaarig sind, muss ich mich hartnäckig Christophs Anschuldigungen erwehren, dass das Quartett ein Resultat meiner Südamerika-Reise vor drei Jahren ist…zudem kommt vom Alter her nur einer der Jungs in Frage 😉
Wir fahren vorbei an Fischerhäuschen, die mitten im Wasser stehen und kleinen vorgelagerten Inseln auf denen die Zeit wohl stillgestanden ist. Die grünen Hügel erinnern an das “Auenland“, nicht das erste Mal das sich Chile meiner Ansicht nach auch als Schauplatz für Herr der Ringe oder Hobbit-Filme eignen würde. Vor uns liegt Nebel auf dem Wasser und als wir langsam darin eintauchen wird es kalt. Ich suche mir unten einen leeren Platz, während draußen leichter Nieselregen einsetzt. Die Sichtweite beträgt wenige Meter und uns wird klar, warum auf diesem vergleichsweise alten Schiff eine nagelneue Radaranlage montiert ist.
Gegen 20.00 Uhr sagt der Kapitän durch, dass wir nun bald Chaiten erreichen. Wir gehen an Deck und entdecken den Vulkan Corcovado. Dann zeigt sich langsam ein Strand, sowie etwas weiter vorne ein Leuchtturm. Irgendwann erkennen wir auch den Fähranleger. Da das Boot noch wenden muß, gehe ich nochmal nach innen. Mit meiner kurzen Hose, die ich optimistischer weise heute Morgen angezogen habe, ist es doch etwas frisch… Nach einigem Gewusel kommt auf einmal eine Durchsage, dass das Aussteigen erst um 23.40 Uhr beginnt. Noch 3,5 Std.?! Christoph kommt rein und hat die Antwort für mich: Der Wasserstand ist wegen der Ebbe zu niedrig, so dass die Fähre nicht anlanden kann. Sie haben es wohl einige Male versucht aber ohne Erfolg. Nun müsse man auf die Flut warten, wohl eine Nachwirkung der verspäteten Abfahrt heute Morgen.
Wir suchen uns einen Platz im Innenraum und ergattern zwei der letzten Sandwiches. Die Chilenen haben andere Probleme. Meine Sitznachbarin muß für ihren Vater eine Ladestation für 7 (!!!) Handy, i-pads usw. aufbauen. Eine Mehrfachsteckdose haben sie natürlich dabei. Wir lernen: Auch wenn es nichts mehr zu essen gibt, hauptsache die mobilen Kommunikationsgeräte sind einsatzfähig! Wir vertreiben uns die Zeit, Kai mit Lesen, ich schreibe Blog und Christoph spielt mit Rachel, einer Amerikanerin, die auf dem Weg zu ihrer Stelle als Englisch-Lehrerin in einem humanitären Projekt ist, woran sie teilnimmt um Lebenslauf ihren aufzuputschen, und zwei französischen Mädels Karten. Auf Rachels Frage was Kai liest und auf die Antwort wie er den zweiten Teil von “Die Tribute von Panem“ findet, antwortet er “Love ist not my Thing”
Es ist irgendwie Ironie des Schicksals, dass wir nicht draußen auf See Schiffbruch erleiden oder irgendwo auf Grund gehen, sondern quasi nur 10 Meter vom Ufer entfernt sind, es doch keine Möglichkeit gibt das Schiff zu verlassen, da auch die Beiboote wegen dem Wasserstand nicht anlegen können. Als gegen 22.30 Uhr immer noch keine Verbesserung der Situation in Sicht ist beginnt sich unter den Passagieren Unruhe breit zu machen. In der Mitte des Raumes stehen plötzlich eine Handvoll Leute, die ihre Meinung lautstark kundtun und um Unterstützung bitten. Sie sehen den Grund des Übels darin, dass das Verladen der Fahrzeuge am Morgen durch die Kreuzfahrttouristen auf dem Anleger in Castro verhindert wurde und die daraus resultierende Verspätung nun diese Situation ausgelöst hat. Zwei junge Chilenen tun sich hierbei als Rädelsführer hervor. Der Hauptredner ist, vom äußeren zu urteilen, wohl indigener Herkunft, daher nennen wir ihn den “Mapuche“ (Ureinwohner Chiles). Die Optionen sind nun Unterschriften zu sammeln und das Fährunternehmen zu verklagen, oder wenn das Aussteigen beginnt in einen Sitzstreik zu treten, bis der Kapitän eine Entschädigung zusagt. Ich halte beides für unrealistisch, finde die Reaktionen aber interessant. Man fühlt sich benachteiligt und möchte nun seine eigenen Interessen, in diesem FRall ganz einfach heute Nacht ein Dach über dem Kopf, durchsetzen. Das Ganze hat aber etwas von Revolution, wir es von nun auch nennen und ich hätte eigentlich erwartet, dass jemand auf den Tisch steigt, irgendwas von Freiheit brüllt und wir die Brücke stürmen – Viva la Revolución!
Während der nächsten zwei Stunden herrscht allgemeine Hektik, immer wieder ergreifen Leute das Wort, während “Revolutionshelferinnen“ umhergehen und Unterschriften sammeln. Eine Kontaktadresse für mögliche Schadensersatzzahlungen können wir leider nicht angeben, aber Erfolg in dieser Hinsicht scheint eh sekundär. Der “Mapuche“ hat Kontakt mit der Bürgermeisterin von Chaiten und gibt durch, dass sie versuchen eine Unterkunft für diejenigen zu finden, die ihre Anschlüsse verpasst oder keine Unterkunft in Chaiten reserviert haben. Sowohl wir drei, als auch die beiden Französinnen sind der Meinung, dass wir eher über Nacht auf (den halbwegs bequemen Sitzen) der Fähre bleiben und dort schlafen wollen, da eine Hostelsuche bei Nacht, bei der Menge an Personen sich als sehr, sehr schwierig herausstellen könnte. Draußen beginnen die Autos am Anleger, die ihre Gäste abholen wollen, zu hupen. Immer wieder kommen Zwischenmeldungen von den Revolutionsführern, die wohl eine Standleitung nach Chaiten unterhalten. Wir scheinen bei dieser Aktion eine wichtige Rolle einzunehmen, denn eine der Revolutionshelferinnen erkundigt sich fortlaufend, ob wir alles verstanden haben. Auch der junge Chilene, der sich neben dem “Mapuche“ hervortut, kommt an unseren Tisch, stellt sich vor, erklärt die Situation und sagt wir finden ihn auf Sitz 28, wenn etwas sein sollte. Durch unsere Unterstützung bekommt die ganze Aktion nun auch internationales Ansehen und die Welt soll sehen, dass sich die junge chilenische Generation nichts gefallen lässt 😉
Im Bordfernsehen läuft Alien vs. Predator, nicht gerade passend wenn man die Masse an Kindern an Bord berücksichtigt. Aber nach dem “Charlize Theron Nachmittag“ mit Aeon Flux und Snowwhite, sowie einem Bericht über die aktuellen Aufstände in Venezuela nimmt es sich aber nicht mehr viel. Bei den Verhandlungen scheint es zu stocken, dann kommt plötzlich gegen 0.30 Uhr die Nachricht, dass Aussteigen nun möglich ist. Der Großteil der Passagiere nimmt dies auch wahr, zum Entsetzen der Revolutionäre. Ein Mitarbeiter der Fährgesellschaft betritt den Raum und bittet deutlich alle auszusteigen. Die Antwort, die ihm von den hiergebliebenen entgegenkommt, scheint im nicht zu passen und die Stimmung wird leicht aggressiv. Er droht mit der Polizei, was alle aber recht gelassen nehmen. Das ganze zieht sich aber ziemlich hin. Es wird immer wieder verlangt, dass jemand zum Kapitän darf, oder dieser sich blicken lässt, aber ohne Erfolg. Mittlerweile sind an Bord nur noch junge Chilenen, wir drei und die beiden Französinnen. Uns wird immer wieder gesagt, dass alles o.k. ist, man findet eine Lösung und wir sollen ruhig bleiben. Unsere Anwesenheit scheint aufgrund der Sonderbehandlung nach wie vor wichtig zu sein. Plötzlich betreten mehrere Uniformierte den Raum. Bei näherem Hinsehen stellen wir fest, dass es sich um die Marine handelt. Der Ranghöchste ergreift das Wort und sagt, dass er unsere Situation verstehen kann, wir aber das Schiff jetzt verlassen sollen. Da wir weiterhin standhaft bleiben, willigt er ein mit den zwei Revolutionsführern zum Kapitän auf die Brücke zu gehen. Der “Mapuche“ bekreuzigt sich. Welchen Hintergrund das wohl hat… Wir warten weiter. Irgendwann kommen die beiden zurück, aber gerade als sie was sagen wollen dringt Unruhe von draußen rein und sie rennen auf Deck. Dann kommt die Marine zurück: Wir sollen nun erstmal das Schiff verlassen, sie versprechen eine Lösung für uns zu finden. Es sei alles im Gange, dauert aber seine Zeit. Es sollen sich nun alle auf eine Seite setzen, die eine Übernachtungsmöglichkeit brauchen. Was die alternative Möglichkeit ist, verstehe ich nicht, aber es setzen sich sowieso alle nach rechts. Von 180 sind 74 Personen übrig, davon 5 Touristen inklusive uns drei.
Um 1.00 Uhr verlassen wir im Gänsemarsch den Passagierraum. Unten im Laderaum haben die Fahrzeuge bereits das Schiff verlassen und die Passagiere für die Rückfahrt stehen (wahrscheinlich seit Stunden) dort und warten. Beim Gepäck herrscht Anarchie, jeder reißt seine Sachen aus dem Stapel. Unsere Rucksäcke finden wir irgendwo am Boden. Wir verlassen das Schiff, draußen warten die Passagiere, die bereits ausgestiegen sind und scheinbar nun auf das Trittbrett in Sachen kostenloser Übernachtung aufsteigen sollen. Da sich erstmal noch nichts tut warten wir am bzw. im Hafenwärterhäuschen. Die Bürgermeisterin fährt zwischen Stadt und Fähranleger hin und her. Nach einer halben Stunde, gegen 1.30 Uhr ist es endlich soweit. Sie hat organisiert, dass wir im Gymnasio (Turnhalle) übernachten – Die Revolution war erfolgreich^^
Wir machen uns fertig und brechen auf zum Fußmarsch nach Chaiten. Der Stolz der Revolutionäre steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Gefühlte 10 cm größer begleiten sie den Zug, den Erfolg in ihrem Lebenslauf sicher. Hier geht es scheinbar um mehr als um eine kostenlose Übernachtung. Gerade hier in Lateinamerika ist es noch üblich für seine Forderungen auf die Straße zu gehen und zu protestieren, was meist jedoch gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei nach sich zieht. Was heute hier passiert ist wird wohl als sowas wie der Sieg über den Kapitalismus gewertet. Der kleine Bürger gegen die reiche Reederei aus Europa. Ich habe das Gefühl den Einzug in Chaiten fühlen sie sich wie zuletzt Fidel Castro und Che Guevaras beim Einzug in Havana nach der Revolution auf Kuba. Ein Fackelzug mit Stirnlampen die Straße an der Küste entlang hinein in den kleinen Ort, begleitet vom Blaulicht der Marine, die mit einem Wagen den Zug begleitet, der Bürgermeisterin in ihrem Auto, genauso wie einem “Partymobil“, wo zwei Damen mittleren Alters die Musik aufgedreht haben und nun versuchen Gäste für ihre Unterkunft zu gewinnen. Als wir nach 10 Minuten Fußmarsch in Chaiten eintreffen, kommen die Bewohner -mitten in der Nacht- aus den Häusern um zu schauen was vor sich geht. Wir nehmen, quer über die Plaza, direkt Kurs auf die Turnhalle. Das Licht brennt bereits und neben dem Eingang steht der “Mapuche“ um die Abwicklung des “Friedensvertrags“ zu beobachten. Später sehen wir ihn nicht mehr. Sein Handeln war wohl absolut uneigennützig und er zieht sich in seine Unterkunft zurück.
In der Turnhalle begrüßt uns ein Vertreter der Stadt und stellt uns den Sportlehrer Ignazio vor, der heute Nacht die Aufsicht übernimmt. Aufgrund seiner Jacke des Clubs Boca-Juniors scheint er wohl Argentinier zu sein. Der Parkett-Fußboden ist zum Schutz mit Platten ausgelegt, wir breiten unsere Matten und Schlafsäcke aus. Die Chilenen bauen ihre Zelte auf und kochen auf Gaskochern ihr Abendessen. Die Duschen sind gut aber kalt. Ignazio, der die ganze Nacht da bleibt dreht das Licht langsam runter um 3.00 Uhr geht endgültig aus.
Willkommen in Chaiten
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